Franziskusweg – In höchsten Höhen und in tiefsten Tiefen

Der dritte Tag meiner Pilgerreise bringt mich gleichzeitig in höchste Höhen und tiefste Tiefen. Die Etappe zum Kloster Camaldoli soll es laut Reiseführer in sich haben, das Streckenprofil zeigt in der Mitte der Strecke fast senkrecht nach oben. Zudem ist für den Nachmittag schwerer Regen angesagt, vielleicht sogar Gewitter.

Trotz meiner schmerzenden Knie breche ich früh und gut gelaunt von meiner Herberge in Stia auf. Bis zum berüchtigten Anstieg läuft alles bestens, ich bin für mich alleine, die wenigen anderen Pilger sind entweder schon aufgebrochen oder haben abgebrochen. Mein Körper gewöhnt sich langsam an das Gehen, heute fühle ich mich trotz des Muskelkaters kräftig und ausgeruht. Vor dem Anstieg mache ich bei dem Franziskanerinnenkloster bei Casalino Rast und esse bei herrlicher Aussicht auf das Tal Panino Prosciutto und saftige Tomaten. Soll die steile Strecke nur kommen, ich bin bereit! Doch sie kommt nicht.
Irgendwo muss ich falsch abgebogen sein, denn die Beschreibung im Pilgerführer deckt sich nicht mehr mit der Realität, in der ich stehe. Obwohl ich bereits etliche Höhenmeter seit dem Kloster gegangen bin, gehe ich zu diesem zurück um zu überprüfen, ob ich etwas übersehen habe. Aber ich finde keine andere Abzweigung. Bis heute weiß ich nicht, wo ich falsch abgebogen bin. Ich laufe also wieder bergan bis zur Gabelung, an der ich eben schon stand. Rechts scheint der Weg wieder hinunter in das Tal zu führen, links steigt er steil gegen den Berg auf. Laut Beschreibung soll es ja nach oben gehen – also wähle ich fataler Weise den linken Weg.

Windung um Windung schraubt sich der Weg hoch, erst eine Asphaltstraße, dann eine Schotterstraße, dann nur noch Lehm. Das Tal liegt bereits tief unter mir, doch längst sind keine Wanderweg-Markierungen mehr zu sehen. Aber ich will nicht zurück, schließlich habe ich nun schon so viele Höhenmeter hinter mich gebracht! Und die Richtung scheint zu stimmen, dieser Berg muss es sein! Also laufe ich weiter, immer höher, bis der Weg schließlich in eine Richtung abbiegt, die unmöglich stimmen kann! Weit unter mir sehe ich den alternativen Weg, der nach rechts führt, doch für eine Umkehr bin ich bereits viel zu hoch. Weder Handy noch Karten noch Kompass helfen mir weiter (zu allem Überfluss stütze ich mich nach einer Rast beim Aufstehen auf dem Kompass ab, der mit einem sandigen knirschen zerspringt). Ich will nicht aufgeben, und so verlasse ich den Lehmweg und folge einem schmalen Pfad in Richtig Gipfel.

Es geht nun stark ansteigend nach oben. Ich bin schon eine Weile gegangen, da wird der Fußpfad zu einem Wildpfad, den die Tiere gebildet haben. Vielleicht ist er von Anfang an nicht mehr gewesen, und nur mein Wunsch nicht umkehren zu wollen lässt ihn für mich wie ein Wanderpfad aussehen. Aber ich will noch immer nicht zurück! Ich werde nich aufgeben!
Weiter steige ich den Berg hoch, durch das enger und stacheliger werdende Gestrüpp. Mehrmals bleibe in an Ästen mit dem Rucksack hängen, Dornengestrüpp ritzt mir rote Striemen in die Waden. Der Himmel hat sich nun zugezogen, dunkle Wolken hängen über dem Tal. Die Furcht vor Regen treibt mich zusätzlich an, am Berg will ich nicht in ein Unwetter geraten. Also weiter, weiter!
Endlich ein Weg! Nein, doch wieder nur ein Tierpfad, der sich nach einigen Metern im Dickicht auflöst. Es wird immer steiler, und mehrmals glaube ich, gleich am Gipfel zu sein, doch dahinter türmt sich nur ein weiteres Stück Bergwand. Ich will nicht umkehren! Weiter, weiter! Ich bleibe an Sträuchern hängen, der Schweiß läuft mir in Strömen über das Gesicht und den Rücken, der Rucksack zieht schwer an meinen Schultern. Weiter, nicht umkehren! Kein zurück! Du bist so weit gekommen!
Kaum schaffe ich die letzte Felskante, doch dann habe ich es geschafft! Ich stehe ganz oben auf dem Gipfel und werde mit einem überwältigenden Ausblick über den gesamten Naturpark belohnt, sehe die Bergzüge in weiter Ferne immer blasser und blasser werden. Auf der kleinen Lichtung ist eine große Steinmulde. Es sieht aus wie ein geheimer Versammlungsort der Tiere, die mich aus dem Gebüsch heraus überrascht beobachten und ab und zu davon springen. Rehe, einmal glaube ich den Schweif eines kleinen Pferdes zu sehen. Ich würde mich nicht wundern, wenn dort ein Einhorn grasen würde!
Doch für mich ist hier oben nichts! Nicht der erhoffte Weg, kein Schild, kein Wanderpfad. Nur noch mehr Dickicht. Ich habe es geschafft, bin auf dem Gipfel, nur um festzustellen, dass ich am falschen Ort bin! Dieser Berg liegt zu westlich, abseits meiner Route. Ich habe alles gegeben, habe mich völlig verausgabt, nur um auf dem falschen Gipfel zu stehen!
Es hilft alles nichts, ich muss umkehren und wieder absteigen. Das Wetter droht noch immer mit Regen, deshalb mache ich mich schnell wieder an den Abstieg. Je mehr ich am Hang entlang rutsche, an den Dornen festhänge und ein ums andere Mals ausrutsche, desto wütender werde ich. Diese Wut treibt mich den Berg wieder hinunter, laut fluchend rutsche ich über die moosbedeckten Steine dem Tal entgegen. Geht es hier lang? Oder da entlang? Zeitweise verliere ich die Orientierung, aber die Wut treibt mich weiter an. Viel zu schnell rase ich den Hang herunter, so wie es auch in mir rast! Dann finde ich meine eigenen Spuren wieder, folge ihnen, bis ich schließlich klatschnass vom Schweiß den Schotterweg erreiche. Mit voller Kraft schreie ich meine ganze Wut hinaus!
Weiter geht es runter, Biegung um Biegung gehe ich den Weg zurück, verliere wieder die ganze Höhe, die ich mir so mühsam erarbeitet hatte. Und das an dieser schwierigen Etappe, wo doch jeder Meter doppelt zählt, nach vorne und nach oben. Weiter runter, am Gehöft vorbei, an der Gabelung, über den Bach. Und endlich bin ich wieder unten an der Kreuzung, an der ich falsch abgebogen bin. Bevor ich nun den rechten weg nehme, schreie mir noch einmal die Wut aus den Lungen. Die ganze Anstrengung ist für die Katz gewesen!

Euer Schmerz ist das Zerbrechen der Schale, die euer Verstehen umschließt.Khalil Gibran

Und dann kommen die Tränen. Durch die Anstrengung und Enttäuschung hat sich ein Tor in mir geöffnet, durch das viel Schmerz nach oben gespült wird. Aus diesem Jahr, aus den Jahren davor, von noch weiter weg. Mein Kopf versucht hilflos Gründe für die Tränen zu finden, aber es ist egal, mein Körper weint gerade und es tut mir gut, diese Trauer einfach nur zu spüren. Den Weg sehe ich nur wie durch einen Schleier, ohne Pause schiessen mir die Tränen aus den Augen und tropfen auf meine Regenjacke und vermischen sich mit dem einsetzendem Nieselregen.
Der Weg führt mich nun leicht ansteigend in einen Wald, der mich sanft verschluckt.
Riesenhohe Bäume bilden hoch oben ihr grünes Dach, doch auch darunter ist alles grün. Dunkles Grün an den regennassen Stämmen, helles Moosgrün auf den Steinen, alle möglichen Schattierungen von Grün. Mächtige Buchen hatten ihre Wurzeln in die Felsen getrieben, riesige Tannen spannen ihre schweren Zweige aus. Auch wenn meine Tränen noch immer laufen, werde ich immer ruhiger. Alles fühlt sich beseelt an und miteinander verbunden. An den Abbruchstellen sehe ich wie die Wurzeln der Bäume im Erdreich ineinander gewachsen sind und bei den sprudelnden Bächen habe ich plötzlich das Gefühl, ich müsse die Wassergeister um Erlaubnis zum Überqueren fragen.

Dann steht mitten im Wald ein schwarzer Hund und bellt mich aus, bevor er schwanzwedelnd auf mich zukommt und sich streicheln lässt. Ich stehe vor dem Rifugio Asqua, einer Art Jugendherberge für Wanderer und Ausflügler. Nebelschwaden ziehen am Haus vorbei durch die Stämme der Bäume, es sieht so unwirklich aus. Ich bleibe stehen und merke erst jetzt, wie erschöpft ich bin. Ich kann mich kaum noch bewegen. Ein Mann kommt aus dem Haus, fragt mich freundlich, ob ich etwas essen möchte. Und trinken. Ob ich einen Platz zum Schlafen brauche. Ja, dreimal ja. Er zeigt mir ein Mehrbettzimmer, dass ich für mich allein habe, das Wasser für die Dusche heizt noch, das Essen steht auf dem Herd.
Später sitze ich in eine Decke gehüllt am großen Kamin, trinke einen heißen Kaffee und der schwarze Hund hat sich auf meinen Füßen zusammen gerollt. Der Raum ist voll von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, eine Wochenendgruppe. Gespannt hören sie Irene zu, die eine Sage zur Entstehung dieses Ortes, des Waldes und der Berge vorliest. Ich lausche dem Klang ihrer Stimme, der Hund schnauft wohlig auf meinen Füßen und ich zerfließe vor Dankbarkeit, jetzt in diesem Moment hier sein zu dürfen.
Später singt Irene ein süditalienisches Lied, das von Schmerz und der Sehnsucht (der Frauen) nach Leben handelt. Giacomo spielt Gitarre dazu, Gabriel trommelt, ich spiele die Tabla. Das Lied fängt langsam an und wird immer schneller, es geht um die Verwandlung von Schmerz in Lebensfreude. Irene singt aus vollem Herzen, wir spielen immer schneller, bis nur noch Freude da ist, reine Lebensfreude!

Grazie a Gabriele e Stefi per questa splendida accoglienza!

Hier geht es zur deutschsprachigen Internetpräsenz vom Rifugio Asqua. (Danke Stefi für die Aktualisierung!)


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