Der Morgen in Sansepolcro war warm und sonnig, ein Vorbote späterer Sommertage. Ich war nun mehr als eine Woche unterwegs und mein ganzes System hatte sich umgestellt. Mein Körper hatte sich an die täglichen Wanderungen gewöhnt und auch meinem Geist schien sich auf das Reisen zu Fuß eingestellt zu haben und wurde ruhiger. Ich hatte erfahren, dass ich die Strecke bewältigen konnte, jeden Tag gut und reichlich Essen und ein warmes Bett bekommen hatte. Ich trank in Ruhe meinen Cappuccino auf der Piazza Torre di Berta aus und füllte am Brunnen meiner Wasservorräte auf. „Für mich ist gesorgt“ ging es mir durch den Kopf. Der Gedanke entsprang einem Körpergefühl von Vertrauen, ja Urvertrauen, das sich zwischen der Freude und Neugier auf den heutigen Tag und einer tiefen Entspannung ausbreitete. Der Rucksack wog heute leicht und ich fühlte mich neugierig auf die Welt wie Goldmund aus Hermann Hesses Roman, als ich die Stadt verließ und weiter meines Weges durch die Welt zog.
Ich hatte keine Eile und kam sehr gemächlich voran. Um es gleich vorweg zu nehmen: ich ließ mir zu viel Zeit. Achtsamkeit hat nichts mit Trödeln zu tun. Wobei das sich ja nur auf ein gesetztes Ziel beziehen kann, zum Beispiel am Abend eine Herberge zu finden. Im Nachhinein denke ich, dass ich dieses Ziel an diesem Tag gar nicht hatte, sondern es bereits darauf anlegte, mein Glück zu probieren – wie immer das aussehen mochte. Und ich wollte noch mehr von dieser Landschaft spüren, in sie eintauchen und in mich aufnehmen. Was nur möglich ist, wenn man sich gleichzeitig von ihr verschlucken lässt. So folgte einer der intensivsten Tage meiner gesamten Pilgertour.
Vertrauen ist eine Oase im Herzen, die von der Karawane des Denkens nie erreicht wird.Khalil Gibran
Es war bereits Mittag und recht warm, als ich nach den ersten Bergen in einem kleinen Tal über eine Brücke ging. Ich konnte den Fluss unter mir hören aber nicht sehen, da dickes Gestrüpp den Blick verstellte. Aber irgend etwas machte mich neugierig und ich hielt Ausschau nach einer Möglichkeit, zum Wasser zu gelangen. Und tatsächlich führte neben der Brücke ein kaum sichtbarer Trampelpfad sehr steil zum Fluss hinunter, überwachsen von Dornengestrüpp. Der Fluss ergoss sich hier in Kaskaden in mehrere natürliche steinerne Becken, die wunderbare Badewannen bildeten. Ein traumhaft schöner Ort, den ich für eine ausgiebige Badepause nutzte. Das Wasser war sehr kalt, doch ließ ich mich von den warmen Sonnenstrahlen schnell wieder trocknen.
Nach dieser langen Pause machte ich mich wieder auf den Weg, nun kam der Anstieg zum Kloster Montecasale, steil an der Flanke eines bewaldeten Berges hinauf. Es überholte mich ein Pilger, der in zweieinhalb Tagen meine gesamte bisherige Strecke zurückgelegt hatte. An La Verna war er zügig vorbeigegangen, da so viel Strecke wie möglich machen wollte in der einen Woche, die er Zeit hatte. Unterschiedlicher hätten unsere beiden Herangehensweisen gar nicht sein können. Die Strecke ist zwar dieselbe, aber der Weg ist ein ganz anderer.
Auch beim Aufstieg ließ ich mir Zeit, machte immer wieder kleine Abstecher zu malerischen Wasserfällen abseits des Weges. Als ich schließlich am Kloster Montecasale ankam war ich bereits in Trance, berauscht von der Natur, den Wäldern, Flüssen und Gerüchen, mehr braucht es nicht. Den Blick von dem kleinen Balkon über das ganze Tal nach Sansepolcro genoss ich zusammen mit dem steinernen Franziskus. Dann erreichten zwei Pilgerinnen die Einsiedelei. Wir waren uns in den letzten Tagen immer wieder begegnet, und auch diesmal war Freude über das Wiedersehen zu spüren. In fast meditativer Stille besuchten wir dieses kleine Kloster, das mich weit mehr berührte als die mächtige Basilika in der Ebene vor Assisi. So wie die Santa Maria degli Angeli Stärke und Macht ausstrahlt, so vermittelt das Kloster Montecasale ein Gefühl von Hingabe und Einkehr in das eigene Sein. Zwei Hunde schlafen in der Sonne, ein Mönch hängt seine Wäsche auf eine Leine. Ein Frosch springt in den Teich, vom Wasser ein Geräusch. Platsch.
Die beiden Frauen gingen eine andere Route, und beim Abschied war es – wie auch die anderen Male – nicht klar, ob wir uns Wiedersehen würden. Wir verabredeten nichts und planten nichts. Einfach loslassen. Keine Telefonnummern austauschen, keine Orte verabreden. Eine einfache Geste zwischen Reisenden, die sich kaum kennen. Im Vertrauen darauf, dass das, was gesehen wird, das Richtige sein wird.
Nun war es bereits später Nachmittag geworden, und mit einem Schrecken stellte ich fest, dass ich noch den längsten Teil der heutigen Strecke vor mir hatte. Das Rifugio am Kloster war geschlossen, und so machte ich mich mit schnellen Schritten auf den Weg in Richtung Lama. Der Pfad führte ansteigend immer weiter in die felsigen Berge hinein, doch stimmte er nicht mehr mit meiner Wegbeschreibung überein. Nach einer Dreiviertelstunde musste ich erneut feststellen, dass ich mich verlaufen hatte. Wie konnte das sein? Es gab doch gar keinen anderen Weg? Ich ging den Weg weit wieder zurück (das Hergeben von Höhenmetern bleibt einfach eine überaus unangenehme Sache!) . Und ja, da war eine Abzweigung und in meiner Eile hatte ich den zweiten Markierungsstein nicht gesehen. „Super gemacht, sehr achtsam!“ nörgelte eine Stimme in mir, die ich registrierte und mit einer tiefen Ausatmung unspektakulär gehen ließ.
Die Sonne stand nun bereits sehr tief und mir wurde klar, dass ich es heute nicht mehr bis Lama schaffen würde. Bald würde es dunkel werden und ich stand mitten in den Bergen mit einem kümmerlichen Rest an Wasser, Lebensmitteln und klugen Weisheiten herum. War wirklich für mich gesorgt? Vertrauen scheint ein ganz anderes Wort zu sein, je nachdem ob man zu Hause im Sessel sitzt oder in der Dämmerung in den Bergen steht. Was dann folgte war eine unvergessliche Nacht.
Fortsetzung: IMontecasale und das Vertrauen ins Leben (Teil 2)
Vorheriger Beitrag zum Franziskusweg: In höchsten Höhen und in tiefsten Tiefen