Bald würde die Sonne untergehen und ich stand in den Bergen an der Grenze zwischen der Toskana und Umbrien. Weder würde ich es heute noch zur nächsten Etappe nach Lama schaffen, noch den Abstieg zurück nach Sansepolcro. Ich war nicht ausgerüstet für eine Nacht im Freien, ein Zelt hatte ich nicht dabei, noch nicht einmal einen richtigen Schlafsack, sondern nur einen dünnen Biwak-Überzug. Dennoch beschloss ich die Nacht hier in den Wäldern zu verbringen. Eine Nacht, die ich nicht missen, aber so auch nicht wiederholen möchte.
Was hatte mich in diese Situation gebracht? Habe ich getrödelt? Trödeln, laut Definition sich sorglos der Zeit überlassen und sie damit vergeuden. Ja, sorglos war ich heute, aber welches Erlebnis würde ich rauskürzen wollen? Den Kaffee auf dem Platz in der Stadt am Morgen? Das herrliche Bad in den natürlichen Becken des Flusses? Den Aufstieg an den Wasserfällen entlang? Auch nicht, ebenso wenig den meditativen Aufenthalt im Kloster Montecasale. Klar, das Verlaufen war unnötig, obgleich der Weg schön war, ein herrlicher Blick in die Täler, umgeben von abendlicher Stille. Und wenn ich genau in mich hinein höre, war es mein Wunsch gewesen, in diese Situation zu kommen. Nicht im Bett einer Herberge zu schlafen, sondern am Feuer in den Wäldern. Eine Nacht am Weg zu verbringen, unterm Sternenzelt.
Vertraue auf Gott, aber binde dein Kamel an.Mohammed
Bald kam ich an einer Ruine vorbei, hinter der ein Bach sich seinen Weg gegraben hatte. Hier hätte ich mich reinlegen können, wäre sicher vor Regen gewesen. Aber das dunkle Gemäuer wirkte nicht einladend, und so folgte ich dem Bach ein Stück weiter, bis ich eine Holzbank unter einem hohen Baum entdeckte, am Rande einer gerodeten Lichtung. Das sollte mein Platz für die Nacht werden. Ich sammelte Feuerholz, was sich als erstaunlich schwierig erwies, da hier nur wenige Bäume standen und viel Holz zu nass war. Für Feuer war gesorgt, Wasser gab es genug. Nur meine sehr begrenzten Vorräte bereiteten mir Sorgen, ein paar Kekse und ein Stück Wurst waren nicht viel. Jeden Abend hatte ich bisher lecker und nicht wenig gegessen. Trotz aller Dankbarkeit ist das Gefühl da: das habe ich mir verdient! Die Belohnung des Tages! Ein Gläschen Wein dazu, warum nicht nach einem langen Wandertag? Dieser Teil, der schon in Gedanken am Abend an der Tafel sitzt, der auf Belohnung und Genuss wartet, der verschläft den Augenblick, denn er befürchtet, er ist dort, was sein könnte, aber vielleicht niemals sein wird.
Es war nun schon merklich dunkler geworden, als ein italienisches Wanderpaar plötzlich um die Ecke auf die kleine Lichtung kam. Sie hatten mich vom Weg aus gesehen und erkundigten sich, ob bei mir alles in Ordnung ist. Ich erklärte ihnen, dass ich die Nacht hier verbringen werde, was die beiden in eine Mischung aus Erstaunen, Mitgefühl und Achtung versetzte. Ohne zu zögern fischten sie aus ihren Rucksäcken alles Essbare heraus, was sie noch besaßen und gaben es mir. Ein Apfel, Nüsse, ein Stück Brot, noch etwas Wurst. Ich war zutiefst gerührt! Kurz vor der Dunkelheit kamen diese beiden Menschen vorbei, schenkten mir Lebensmittel und sorgten so dafür, dass ich ein leckeres Abendbrot hatte. Danke euch beiden für diese Hilfe!
Bevor es ganz dunkel wurde nahm ich noch ein Bad im Gebirgsfluss, am Fuße eines völlig zerfallenen Hauses, überwuchert mit Gestrüpp, kalt, klar und erfrischend. Ich entzündete das Feuer, aß auf der Pritsche Wurst und Nüsse und sah den Flammen zu, die in den Nachthimmel züngelten. Auf dem Bergkamm zeichnete sich die Silhouette eines Rehs ab, dass gelassen zu mir heruntersah. Ein Gefühl von „in Ordnung sein“ breitete sich in mir aus, alles um mich herum war in Ordnung, stimmig. Und ich war ein Teil davon. Etwas oberhalb des Baches war plötzlich ein Brüllen und Kreischen zu hören. Wegen der Wölfe machte ich mir keine großen Sorgen, die sind scheu und selten. Aber Wildschweine hatte ich einige gesehen, zusammen mit ihren Jungtieren, die gerade zur Welt gekommen waren. Ein Teil von etwas zu sein heißt eben auch ganz dabei zu sein.
Um es gleich zu sagen: die Nacht wurde bitterkalt. Ich war auf etwa 800 Meter Höhe, ohne richtigen Schlafsack und ich hatte das schlicht und einfach unterschätzt. Ich versuchte das Feuer so lange wie möglich am Brennen zu erhalten, doch nachdem es ausgegangen war, zog ich Stück für Stück aus meinem Rucksack an, bis ich wirklich alles anhatte. Und es war immer noch saukalt. Ein ganz leichter Wind wehte, kaum wahrnehmbar, doch er transportierte jede Wärme sofort ab. An Schlaf war kaum zu denken. Ich muss dann doch eingenickt sein, denn plötzlich wurde ich von Schnauf- und Grunzgeräuschen wach. Ich konnte die Wildscheine zwar nicht sehen, doch sie mussten nur wenige Meter von mir entfernt sein. Was sollte ich tun? Ich raschelte mit meinem Biwak-Überzug und grunzte zurück, so tief und kehlig wie ich konnte. Die Wirkung war beachtlich! Ich hörte ein hohes Quicken und dann eiliges getrappelt, dass sich schnell entfernte. Anscheinend sind auch die Wildschweine nicht gewöhnt, in der Nacht an ihrem Stammplatz auf schlafende Menschen zu treffen.
Mehrmals schlief ich wieder ein, doch wachte ich immer von der Kälte auf. Wer einmal den sprichwörtlichen „Silberstreif am Horizont“ gesehen hat, herbeigesehnt hat nach einer langen, harten Nacht, wird die Bedeutung wirklich verstanden haben. Im ersten Dämmerlicht packte ich steif vor Kälte meine Sachen und machte mich auf den Weg in Richtung Lama. Richtig warm wurde mir auch vom Gehen nicht, ich stakste wie auf Stelzen durch den frühen Morgen. Ein Stück Haut auf meinem Oberschenkel konnte ich gar nicht spüren, es dauerte Wochen bis ich dort wieder Gefühl hatte.
Ich hatte mir vorgestellt, dass ich den Ort früh erreichen, vielleicht sogar gleich noch die nächste Etappe dranhängen würde. Was für eine Illusion! Jeder Schritt war zäh wie in Kaugummi, als hätte ich bereits einen langen Wandertag in den Knochen. Mit Mühe erreichte ich den Ort, endlich, ich war fix und fertig! Die Kälte hatte jede Kraft aus meinem Körper rausgezogen. Nach einem sagenhaften ersten Cappuccino suchte ich mir ein Hotel und blieb den Rest des Tages abwechselnd unter der heißen Dusche und im Bett! Schluss! Aus! Basta!
Eine passende Nacht zu einem Tag als wandernder Narr, wie auf der Tarotkarte. Es war wunderschön mich durch die Stunden gleiten zu lassen, alles sorglos zu genießen und mir keine Gedanken zu machen, wie es weitergehen wird. Ein Traum, den wir eigentlich alle haben, oder? Einmal einfach alle Vorsicht über Bord werfen, einfach nur sein. Auf der Karte unten rechts ist ein Hund, der kläffend vor Gefahren warnt. Es gehört eben alles zusammen, und wenn man Teil von etwas ist, dann eben auch von allem, was damit verbunden ist. Ich möchte nichts missen, aber ich bin froh, dass ich meinen Oberschenkel wieder spüre.
Vorheriger Beitrag zum Franziskusweg: IMontecasale und das Vertrauen ins Leben (Teil 1)